Samstag, 14. Juni 2014

Nichts als Vergewaltigungen und Müllberge – unser verzerrtes Indien-Bild



Was ist los mit dem indischen Mann?“ Diese Überschrift entstammt nicht etwa der Feder eines Bild-Zeitungs-„Journalisten“ sondern ist so diese Woche auf zeit-online zu lesen. (http://www.zeit.de/2014/25/vergewaltigung-indien-gewalt-frauen). Dabei handelt es sich bei der Zeit um eine Plattform, die immer wieder in Bezug auf entwicklungspolitische, nachhaltigkeits- oder menschenrechtsspezifische Fragestellungen auch bei komplexen Problemstellungen durch differenzierte Ursachenbetrachtung und Qualitätsjournalismus hervorstach.  

Damit reiht sich dieser Artikel nahtlos ein in die Reihe von Berichten über brutale Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen in Indien oder über unsägliche Kommentare indischer Politiker, welche diese Verbrechen zu relativieren oder zu verharmlosen suchen. (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-06/indien-minister-vergewaltigung

Auch der angesprochene Artikel über den indischen Mann liefert zahlreiche relevante Aspekte in Bezug auf die Rolle der Frau in Indien und die Probleme, die sich aus der kulturell geprägten, teilweise systematischen Ungleichbehandelt ergeben.
Sexuelle Gewalt in Indien ist tatsächlich alltäglich. So sollen nach Angaben verschiedener NGOs durchschnittlich alle 22Minuten eine Frau in Indien vergewaltigt werden. So furchtbar jeder einzelne Fall einer Vergewaltigung zweifelfrei ist, so erscheint es doch notwendig an dieser Stelle anzumerken, dass diese Zahl keineswegs höher liegt als in vielen anderen Ländern. Auch dieser Punkt wird in dem Artikel genannt. Zwar liegen in dieser traurigen Statistik nach UN-Angaben afrikanische Länder wie Süd-Afrika, Botswana und Kongo an der Spitze, aber auch in Europa scheint das Problem sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen bei weitem nicht einmal in Ansätzen gelöst zu sein, nachzulesen in einer Studie nach der in Europa jede zwanzigste Frau schon einmal vergewaltigt und jede dritte Frau Opfer von Gewalt wurde. (http://www.who.int/reproductivehealth/publications/violence/9789241564625/en/ )

Deutlich über das Ziel hinaus schießt der Artikel allerdings dann mit Aussagen wie „Die sexuelle Gewalt wirkt wie das dauernde Dementi von allem, was das Land in der Welt populär gemacht hat: Gandhis Pazifismus, der kultivierte Sex des Kamasutra, die Romantik von Bollywood.“ In der Hoffnung, dass Menschen noch zu weiteren, positiven Assoziierungen mit Indien in der Lage sind, ist es an der Stelle äußerst ärgerlich anmerken zu müssen, dass die von Gandhi gepredigte Gewaltfreiheit auch heute noch von der überwältigenden Mehrheit indischer Männer verkörpert und praktiziert wird. 
Auch die unverschämte und die Grenze zum Rassismus überschreitende Aussage über die allgemeine „prinzenhafte Selbstverliebtheit“ indischer Männer wie sie im Artikel beschrieben wird kann ich nach 4 Monaten Indien nicht bestätigen. 

So ist der mit Verallgemeinerungen und Pauschalisierungen gespickte Bericht ein gutes Beispiel für eine Berichterstattung  die in erster Linie Vorurteile schafft und anschließend bestätigt.
Indien hat tatsächlich gewaltige Probleme wie etwa die ausufernde Korruption oder die Massenarbeitslosigkeit, die insbesondere bei den aber-millionen jungen Indern die innenpolitische Stabilität bedrohen könnte. Auch für die extreme Armut auf dem Land, für die Slumbildung in den Städten, für ausbleibende ausländische Investitionen und nicht zuletzt für die angesprochene Gewalt gegenüber Frauen gilt es schnellst möglichst Lösungen zu finden. Dass sich ein Großteil der indischen Bevölkerung über die prekäre Situation durchaus bewusst ist, davon konnte man sich bei den erst kürzlich abgeschlossenen Präsidentschaftswahlen ein Bild machen. Narenrda Modi, wurde mit einer überwältigenden Mehrheit ins Amt gewählt, in erster Linie auf Grund der Erfolge im wirtschaftlichen Aufbau und bei der Korruptionsbekämpfung, die in seiner Funktion als Präsident des „Vorzeigebundesstaates“ Gujarat auf sein Konto gehen.

Und während Modi in einem beeindruckenden Tempo Programme gegen Korruption und Beamtenwillkür vorlegt, längst überfällige Infrastrukturmaßnahmen wiederbelebt oder sich für die Verbesserung der sanitären Versorgung einsetzt wird in den deutschen Medien interessanterweise beinahe ausschließlich über eine drohende Spaltung Indiens spekuliert.
Selbst als es in Delhi zu einem möglicherweise historischen Treffen zwischen Modi und dem Präsidenten des indischen „Erzfeindes“ Pakistan - Nawaz Scharif - kommt, liest man in Deutschland von den -zugegeben erschreckend dämlichen- Äußerungen irgendwelcher Provinzminister zu den Vergewaltigungen im Norden des Landes. 

Es ist letztlich diese Art der Berichterstattung, die solch ein einseitiges Bild auf ein Land wie Indien wirft. Dabei verbietet sich mit Blick auf die schiere Größe und die kulturelle Diversität des Subkontinents jegliche Form der allgemeinen Aussage. Ohne Zweifel ist jeder einzelne Fall sexueller Gewalt gegen Frauen eine Katastrophe. Definitiv gibt es in indischen Großstädten mehr Müllberge als öffentliche Toiletten. Auf jeden Fall hat Indien unzählige Probleme, aber Indien ist eben auch so viel mehr als das. Ich arbeite täglich mit indischen Kolleginnen und Kollegen zusammen, die mich mit ihrer offenen und herzlichen Art begeistern. In regelmäßigen Abständen lerne ich „mein Indien“ neu kennen, werde überrascht und ständig sehe ich mich dazu gezwungen meine „Vorurteile“ über Indien über Bord zu werfen. Und letztlich treffe ich unzähliche bewundernswerte und inspirierende Menschen, die wirklich alles tun, um sich gegen diese Ungerechtigkeit und für benachteiligte Gruppen einzusetzen. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass dieser Umstand meinem Tätigkeitsfeld hier geschuldet und deshalb nicht repräsentativ ist, aber genauso wenig repräsentativ sind vergewaltigende indische Männer oder Politiker die deren Taten verharmlosen.

Genau aus diesem Grund ärgert mich die eindimensionale deutsche Berichterstattung so sehr, die wohl in erster Linie dazu dient, ein bestehendes und angenehm einfaches Bild über Indien aufrecht zu erhalten, wahrscheinlich genau aus dem Grund, da dieses Land eben weder durch Zeitungsartikel zu beschreiben noch durch Reisen vollständig zu verstehen ist. Meiner Meinung nach wäre es die bessere Lösung uns diese Unerklärlichkeit Indiens einzugestehen, bevor wir uns – immer wieder durch einseitige Berichterstattung bestätigt – ein durch Klischees und Vorurteile geprägtes Bild von diesem faszinierenden und gleichzeitig schockierenden Land machen.

Vielen Dank für euer Interesse,
Claudius