„Was ist los mit dem
indischen Mann?“ Diese Überschrift entstammt nicht etwa der Feder eines
Bild-Zeitungs-„Journalisten“ sondern ist so diese Woche auf zeit-online zu lesen. (http://www.zeit.de/2014/25/vergewaltigung-indien-gewalt-frauen).
Dabei handelt es sich bei der Zeit um
eine Plattform, die immer wieder in Bezug auf entwicklungspolitische,
nachhaltigkeits- oder menschenrechtsspezifische Fragestellungen auch bei komplexen
Problemstellungen durch differenzierte Ursachenbetrachtung und Qualitätsjournalismus
hervorstach.
Damit reiht sich dieser Artikel nahtlos ein in die Reihe von
Berichten über brutale Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen in Indien oder über
unsägliche Kommentare indischer Politiker, welche diese Verbrechen zu relativieren
oder zu verharmlosen suchen. (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-06/indien-minister-vergewaltigung)
Auch der angesprochene Artikel über den indischen Mann
liefert zahlreiche relevante Aspekte in Bezug auf die Rolle der Frau in Indien
und die Probleme, die sich aus der kulturell geprägten, teilweise systematischen
Ungleichbehandelt ergeben.
Sexuelle Gewalt in Indien ist tatsächlich alltäglich. So
sollen nach Angaben verschiedener NGOs durchschnittlich alle 22Minuten eine
Frau in Indien vergewaltigt werden. So furchtbar jeder einzelne Fall einer
Vergewaltigung zweifelfrei ist, so erscheint es doch notwendig an dieser Stelle
anzumerken, dass diese Zahl keineswegs höher liegt als in vielen anderen Ländern. Auch
dieser Punkt wird in dem Artikel genannt. Zwar liegen in dieser traurigen
Statistik nach UN-Angaben afrikanische Länder wie Süd-Afrika, Botswana und
Kongo an der Spitze, aber auch in Europa scheint das Problem sexueller Gewalt
gegenüber Frauen und Mädchen bei weitem nicht einmal in Ansätzen gelöst zu sein,
nachzulesen in einer Studie nach der in Europa jede zwanzigste Frau schon
einmal vergewaltigt und jede dritte Frau Opfer von Gewalt wurde. (http://www.who.int/reproductivehealth/publications/violence/9789241564625/en/ )
Deutlich über das Ziel hinaus schießt der Artikel allerdings dann
mit Aussagen wie „Die sexuelle Gewalt
wirkt wie das dauernde Dementi von allem, was das Land in der Welt populär
gemacht hat: Gandhis Pazifismus, der kultivierte Sex des Kamasutra, die
Romantik von Bollywood.“ In der Hoffnung, dass Menschen noch zu weiteren,
positiven Assoziierungen mit Indien in der Lage sind, ist es an der Stelle äußerst
ärgerlich anmerken zu müssen, dass die von Gandhi gepredigte Gewaltfreiheit
auch heute noch von der überwältigenden Mehrheit indischer Männer verkörpert
und praktiziert wird.
Auch die unverschämte und die Grenze zum Rassismus überschreitende Aussage über die allgemeine „prinzenhafte
Selbstverliebtheit“ indischer Männer wie sie im Artikel beschrieben wird kann
ich nach 4 Monaten Indien nicht bestätigen.
So ist der mit Verallgemeinerungen und Pauschalisierungen
gespickte Bericht ein gutes Beispiel für eine Berichterstattung die in erster Linie Vorurteile schafft und
anschließend bestätigt.
Indien hat tatsächlich gewaltige Probleme wie etwa die ausufernde
Korruption oder die Massenarbeitslosigkeit, die insbesondere bei den
aber-millionen jungen Indern die innenpolitische Stabilität bedrohen könnte. Auch für
die extreme Armut auf dem Land, für die Slumbildung in den Städten, für ausbleibende
ausländische Investitionen und nicht zuletzt für die angesprochene Gewalt
gegenüber Frauen gilt es schnellst möglichst Lösungen zu finden. Dass sich ein
Großteil der indischen Bevölkerung über die prekäre Situation durchaus bewusst
ist, davon konnte man sich bei den erst kürzlich abgeschlossenen
Präsidentschaftswahlen ein Bild machen. Narenrda Modi, wurde mit einer
überwältigenden Mehrheit ins Amt gewählt, in erster Linie auf Grund der Erfolge
im wirtschaftlichen Aufbau und bei der Korruptionsbekämpfung, die in seiner Funktion als Präsident des
„Vorzeigebundesstaates“ Gujarat auf sein Konto gehen.
Und während Modi in einem beeindruckenden Tempo Programme
gegen Korruption und Beamtenwillkür vorlegt, längst überfällige Infrastrukturmaßnahmen
wiederbelebt oder sich für die Verbesserung der sanitären Versorgung einsetzt
wird in den deutschen Medien interessanterweise beinahe ausschließlich über
eine drohende Spaltung Indiens spekuliert.
Selbst als es in Delhi zu einem möglicherweise historischen
Treffen zwischen Modi und dem Präsidenten des indischen „Erzfeindes“ Pakistan -
Nawaz Scharif - kommt, liest man in Deutschland von den -zugegeben erschreckend
dämlichen- Äußerungen irgendwelcher Provinzminister zu den Vergewaltigungen im
Norden des Landes.
Es ist letztlich diese Art der Berichterstattung, die solch ein
einseitiges Bild auf ein Land wie Indien wirft. Dabei verbietet sich mit Blick
auf die schiere Größe und die kulturelle Diversität des Subkontinents jegliche Form
der allgemeinen Aussage. Ohne Zweifel ist jeder einzelne Fall sexueller Gewalt
gegen Frauen eine Katastrophe. Definitiv gibt es in indischen Großstädten mehr
Müllberge als öffentliche Toiletten. Auf jeden Fall hat Indien unzählige Probleme,
aber Indien ist eben auch so viel mehr als das. Ich arbeite täglich mit
indischen Kolleginnen und Kollegen zusammen, die mich mit ihrer offenen und
herzlichen Art begeistern. In regelmäßigen Abständen lerne ich „mein Indien“
neu kennen, werde überrascht und ständig sehe ich mich dazu gezwungen meine „Vorurteile“ über
Indien über Bord zu werfen. Und letztlich treffe ich unzähliche bewundernswerte und inspirierende
Menschen, die wirklich alles tun, um sich gegen diese Ungerechtigkeit
und für benachteiligte Gruppen einzusetzen. Nun könnte man natürlich
argumentieren, dass dieser Umstand meinem Tätigkeitsfeld hier geschuldet
und deshalb nicht repräsentativ ist, aber genauso wenig repräsentativ
sind vergewaltigende indische Männer oder Politiker die deren Taten
verharmlosen.
Genau aus diesem Grund ärgert mich die eindimensionale deutsche
Berichterstattung so sehr, die wohl in erster Linie dazu dient, ein bestehendes
und angenehm einfaches Bild über Indien aufrecht zu erhalten, wahrscheinlich
genau aus dem Grund, da dieses Land eben weder durch Zeitungsartikel zu beschreiben noch
durch Reisen vollständig zu verstehen ist. Meiner Meinung nach wäre es die bessere Lösung
uns diese Unerklärlichkeit Indiens einzugestehen, bevor wir uns – immer wieder
durch einseitige Berichterstattung bestätigt – ein durch Klischees und
Vorurteile geprägtes Bild von diesem faszinierenden und gleichzeitig schockierenden
Land machen.
Vielen Dank für euer Interesse,
Claudius